Der Name eines der berühmtesten Dichter und Gelehrten des 9. Jahrhunderts, Walahfrid Strabo, erinnert sogleich an sein anmutig anschauliches Gartenbuch „Liber de cultura hortorum“, später auch „Hortulus“ genannt, in dem sich der gelehrte Dichter zugleich als heilkundiger Pflanzenfreund erweist. Walahfrid wurde 809 am Bodensee geboren. Mit zehn oder zwölf Jahren kam er in die Klosterschule der Insel Reichenau. Die Lehrjahre hier sollten den jungen Mönch auf ein ereignisreiches Leben vorbereiten. Sein erster Schritt aus der Enge und Strenge der klösterlichen Erziehung führte ihn in das damals berühmte Fulda. Dort im freien, anregenden Kreise internationaler junger Wissenschaftler wurde er Schüler des großen Theologen Rhabanus Maurus. Der kaiserliche Hofkaplan Grimald, der am Hofe Ludwigs des Frommen in Aachen eine einflussreiche Stellung hatte, empfahl Walahfrid als Prinzenerzieher für Ludwigs Sohn Karl aus zweiter Ehe mit der schönen und klugen Welfin Judith. Karl wurde später auch Karl „der Kahle“ genannt. Eine feierliche Huldigungsdichtung für das kaiserliche Paar führte den stillen Mönch ein in die große Welt des Hofes und seiner politischen Intrigen. Als sein Zögling 838 mündig wurde, erhielt der bescheidene und anhängliche Lehrer eine großzügige Belohnung: Der kaum Dreißigjährige sollte nach dem Willen des Kaisers zum Abt auf die Insel Reichenau berufen werden. Doch zunächst entschied sich das Kloster für einen anderen Abt. Erst die Schenkung einiger kaiserlicher Güter an das Kloster erwirkte Walahfrids Ernennung zum Abt. Aus dem Politiker und Höfling wurde der Gelehrte, der mit Hilfe seiner begabten Mönche die Abtei Reichenau zu einem Zentrum der Wissenschaft, der Künste und des Handwerks erhob und zum Mitbegründer der Reichenauer und St. Gallener Dichterschulen im humanistischen Geist der karolingischen Renaissance wurde. Nicht nur Maler, Lehrer und kunstfertige Hand-werker wurden von allen Gegenden des Reiches aus der Abtei Reichenau erbeten, auch die Kunst der ärztlichen Betreuung in Reichenau wurde zum Vorbild für andere Klöster. In der Stille dieser fruchtbaren Jahre entstand vermutlich Walahfrids Gartenbuch, das er dem Gönner, Freund und Vorbild in St. Gallen, dem Abt GDieses Gartenbuch, das der spätere Entdecker und Herausgeber, Joachim von Watt, in der Wiener Erstausgabe von 1510 liebevoll „Hortulus“ nannte, erfreut noch den heutigen Leser, nicht nur durch das Talent der poetischen Gestaltung, die Blätter, Blüten und Früchte zu anmutigem Leben erweckt, sondern auch durch den realistischen Scharfblick des sorgfältig Anteil nehmenden Naturbeobachters, der für die Schönheit der Formen und pflanzlichen Wachstumsbewegungen ebenso viel Sinn hat wie für die nützliche Heilkraft der kleinen und kleinsten Naturgebilde. In der pharmazeutischen Literatur gilt Walahfrids Gartenbuch als das erste botanische Dokument aus altdeutscher Zeit, da hier zum ersten Mal ein Dichter und Arzt sich als echter Naturkundler mit der Pflege und Nutzanwendung von Heilkräutern befasst. Man erlebt des Gärtners Sorge um die Pflanzen, wenn er „tropfenweise mit eigener hohler Hand“ die „zarten Wurzeln, die vor Durst vergehen“, tränkt. Und von der Fülle der so betreuten Lieblinge weiß er in anschaulichen Bildern zu berichten, indessen gilt das Hauptinteresse des dichtenden Gärtners den Heilkräutern, wenn er sagt:
Zahlreich sind in seinem Garten die Minzen: … die Kräfte und Arten und Namen der Minze samt und sonders zu nennen gleiche dem Wissen um die Zahl der Fische im Roten Meer.
Da ist „die Staude des bitteren Wermuts mit zähem Gezweig“. Sie heilt nicht nur „den stechenden Kopf und den quälenden Schwindel“, kocht man “das bittere Grün“ und gießt es über den Scheitel oder legt man die zusammengebundenen Blätter „in molliger Binde“ ums Haupt, so ist es ein Haarmittel von erstaunlicher Wirkung.
Nach sieben Jahren fruchtbaren Wirkens auf der Insel Reichenau fand Walahfrids Leben ein jähes Ende. Er sollte für seinen Landesherrn Verhandlungen führen mit seinem ehemaligen Zögling Karl, der Frankenkönig geworden war. Bei der Über-fahrt über die Loire, am 18. August 849, ertrank Walahfrid. Seine Leiche wurde im Kloster Reichenau beigesetzt.
Als Textvorlage diente:
1. Jubiläumsausgabe der Fa. Nattermann zum 50-jährigen Bestehen 1960
„Die phytotherapeutische Welt“
2. Klostermedizin von Birgit Frohn